Wo die wilden Pferde leben

Die rumänische Wildnis im Donaudelta ist einer der wenigen Orte in Europa, an dem Wildpferde frei leben können.

21.10.2019

Vor einigen Jahren war ihre Existenz jedoch gefährdet, bevor VIER PFOTEN eingriff.

Vorsichtig richtet Dr. Ovidiu Rosu seine Waffe durch das gekippte Fenster seines LKWs. Es steht nichts zwischen ihm und der Stute, die auf der kargen Vegetation des deutschen Siedlungsgebiets  im Donaudelta weidet. Ein Meer von lilafarbenen Gräsern, das fast wie Korallen im Meer aussieht, erstreckt sich bis zum Horizont in alle Richtungen. Und tatsächlich hat sich das Schwarze Meer vor 30.000 Jahren bis zu unserem heutigen Standort ausgedehnt und den Boden durch Meersalz für immer unfruchtbar gemacht. Hier, nur einen Steinwurf vom "Kilometer 0" entfernt, dem Punkt, an dem sich die Donau ins Schwarze Meer ergießt, führt VIER PFOTEN ein Geburtenkontroll-Programm für die Wildpferde von Letea durch.

Kilometer 0

Um überhaupt hierher zu kommen bedarf es einer langen Anreise: Nachdem wir uns über dieverstopfte Autobahn gekämpft haben, die um die rumänische Hauptstadt Bukarest herumführt, sind es weitere vier Stunden Fahrtzeit bis zu den Ostgrenzen des Landes. Die Straßen werden immer leerer und leerer, je weiter wir uns unserem Ziel nähern. Schließlich erreichen wir die Hafenstadt Tulcea, von der aus wir mit dem Boot über die Donau fahren müssen, da Letea und seine umliegenden Gemeinden nicht an das rumänische Straßennetz angeschlossen sind. 

Während die Ufer des Donaudeltas links und rechts vorbeiziehen, verlassen wir mit jeder Minute mehr die Zivilisation. Nach dem Ankern in Letea können wir zum ersten Mal unser Zuhause für die nächsten Tage bestaunen: ein Ort ohne Hotels, Restaurants, Geschäfte und fast ohne Touristen. Für einen mit der Geschichte dieses Ortes unvertrauten Besucher wäre es schwierig zu verstehen, warum wilde Pferde in diesem abgelegenen Teil der Welt für irgendjemanden ein Problem darstellen könnten - und doch wäre ihre Existenz im Jahr 2011 fast beendet worden.

Der 2.800 Hektar große Leteawald an der Grenze zu den deutschen Siedlungsgebieten und der Stadt Letea ist ein UNESCO-Biosphärenreservat und das älteste Naturschutzgebiet Rumäniens. Da die Wildpferde auf der Suche nach Nahrung in den Wald eindringen und an den seltenen und geschützten Bäumen und Pflanzen nagen, wurde beschlossen, dass sie ein Risiko für das stark geschützte Gebiet darstellen. Im Jahr 2011 wurde der lokalen Bevölkerung für jedes Pferd, das sie fangen, eine Belohnung angeboten, was dazu führte, dass Stuten und Hengste mit brutalen Methoden gefangen wurden. Einige der Tiere erlitten schwere Verletzungen - und was noch schlimmer ist, sie sollten zum nächsten Schlachthof gebracht werden. Im letzten Moment schaltete sich VIER PFOTEN ein, um eine Lösung für das Problem anzubieten: ein Geburtenkontrollprogramm, um die Zahl der Pferde in Schach zu halten.

Die erste Nacht

Wir übernachten bei Toni, einem lokalen Bauern, der seinen Hof in ein Gästehaus verwandelt und das touristische Potenzial der rumänischen Wildnis erkannt hat. Seit diesem Jahr betreibt er sogar einen kleinen Laden nebenan, in dem er frische Tomaten und verpackte Snacks verkauft, die er vom Festland aus einführt. Nachts sitzen die Einheimischen auf seiner Veranda und bestaunen uns, die neuen Besucher, die nicht hier sind, um die Schönheit der Landschaft zu bewundern, sondern um sicherzustellen, dass die Wildpferde am Leben bleiben können. Müde von der langen Reise gehen wir früh ins Bett, da wir einen weiteren langen Tag vor uns haben. 

Auf dem Feld

Nach einem zeitigen Frühstück besteigen wir die Ladefläche eines Lastwagens und begeben uns auf die staubigen Pisten, die in die deutschen Siedlungsgebieten rund um den Wald bei Letea führen. Es dauert nicht lange, bis wir die ersten Pferde sehen, und nach einem kurzen Check mit seinem Fernglas identifiziert Dr. Rosu eine Stute, die noch nicht behandelt wurde. Nachdem er sie erfolgreich betäubt hat, beginnt er mit dem Eingriff: Gemeinsam mit der österreichischen Tierärztin Helga Kausel inspiziert er das schlafende Pferd und stellt sicher, dass es dem Tier gut geht, bevor er das Immunverhütungsmittel PZP (Porcine zona pellucida) injiziert, das die Stute unfruchtbar macht - für ein Jahr. 

"Zu dieser Jahreszeit ist die Arbeit gar nicht so schlimm - aber im Winter wird es hart, wenn es draußen -20 Grad sind und der Wind über die weiten Ebenen bläst. Um hierher zu gelangen, muss man nach dem Gefrieren der Donau eine der großen Eisbrecherfähren nehmen."

Dr. Ovidiu Rosu, Tierarzt bei VIER PFOTEN

Der Pferdeflüsterer

Da die Wirkung nur vorübergehend ist, müssen Dr. Rosu und sein Kollege Kuki Barbuceanu, Leiter des VIER PFOTEN ARCA-Programms, ständig zurückkehren, um Auffrischungen zu verabreichen - und natürlich, um bisher ungeimpfte Pferde zu finden. "Zu dieser Jahreszeit ist die Arbeit gar nicht so schlimm - aber im Winter wird es hart, wenn es draußen -20 Grad sind und der Wind über die weiten Ebenen bläst. Um hierher zu gelangen, muss man nach dem Gefrieren der Donau eine der großen Eisbrecherfähren nehmen."

Dr. Rosu und sein Kollege arbeiten schon seit langem zusammen. Sie reden miteinander wie ein altes Ehepaar und man sieht, wie sehr sie sich schätzen. Hier draußen in der Wildnis achten sie aufeinander - und auf die Hunderten von Pferden, die keine Ahnung haben, dass diese beiden dafür sorgen, dass sie weiterleben dürfen.

Die lange Heimreise

Nach drei Tagen in Letea geht unsere Reise zu Ende. Wir marschieren ein letztes Mal über die staubige Hauptstraße der Stadt, unter den ruhigen Blicken der Einheimischen, vorbei an den Strohdächern, die die malerische Landschaft des Dorf prägen. Wenn man all dies zerstören wollte würde man hier ein Yoga-Zentrum für ausgebrannte Großstädter eröffnen.

Auf der Rückfahrt mit dem Boot wird nicht viel gesprochen, da wir die Eindrücke der vergangenen Tage verarbeiten. Unserer Mobiltelefone empfangen langsam wieder ein Signal, während wir uns dem Hafen von Tulcea nähern. Wir bewundern die Skyline des Hafens, sie erscheint nach unseren Tagen in der Wildnis wie das Zentrum der Welt. Wenige Stunden später in Bukarest müssen wir uns von unseren rumänischen Kollegen Ovidiu Rosu und Kuki Barbuceanu verabschieden. Sie werden sich für ein paar Tage ausruhen, bevor sie wieder in die Wildnis zurückkehren, um sicherzustellen, dass die Wildpferde von Letea auch in Zukunft frei laufen können. 

Andreas Rainer

Podcast-Moderator und Autor bei VIER PFOTEN

Andreas moderiert und schreibt die Skripte für den deutschsprachigenen VIER PFOTEN Podcast. Darüber hinaus arbeitet er als Journalist für verschiedene österreichische und internationale Publikationen. Als Geschichtenerzähler begleitet er viele Projekte von VIER PFOTEN und berichtet darüber für unsere engagierte Community.

Jetzt Teilen!

Suche