Tierwohlbewertungsrahmen
„Fünf-Domänen-Modell“ als Basis einer verbesserten Tierwohlbewertung
Tierwohlbefinden ist ein individueller und subjektiver mentaler Zustand1, welcher sich aus der Summe aller mentalen Erfahrungen eines Individuums zu einem bestimmten Zeitpunkt ergibt. Der psychische Zustand wird durch das Zusammenspiel der Funktionsbereiche im Leben eines Tieres beeinflusst:
- die Qualität der Ernährung
- der Umwelt in der das Tier lebt
- dem Gesundheitszustand
- den Verhaltensinteraktionen in seinem physischen und sozialen Umfeld
Der Einfluss der einzelnen Faktoren kann im Laufe der Zeit variieren, was folglich zu einer Veränderung des Tierwohlbefindens, innerhalb eines Bereiches von gut bis schlecht, führen kann. Eine regelmäßige Überwachung ist daher für ein gutes Tierwohlmanagement unerlässlich.
Das Ziel ist, insgesamt eine positive Lebensqualität, d.h. eine positive Bilanz, zu erreichen, indem negative Erfahrungen so gelinde und gering wie möglich gehalten und den Tieren auch positive Erfahrungen ermöglicht werden.
VIER PFOTEN ist bestrebt nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu arbeiten und empfiehlt daher zukünftig das „Fünf-Domänen-Modell“ als Basis der Tierwohlbewertung. Das „Fünf-Domänen-Modell“ wurde von Professor Emeritus David.J. Mellor entwickelt und von VIER PFOTEN als Methode angepasst um Tierwohl zu bewerten.
Seit den 1990er Jahren hat die Wissenschaft unsere Erkenntnisse über das Wohlergehen von Tieren stark verbessert. Wir wissen nun viel mehr über die unangenehmen und die angenehmen psychischen Erfahrungen, welche Tiere machen können, Bescheid und wie sich diese auf ihr Wohlbefinden auswirken. Diese Erkenntnisse haben zur Entwicklung neuer Konzepte geführt, die eine systematische Beurteilung des Tierwohls ermöglichen. Derlei Beurteilungen sind ein regelmäßiger Bestandteil des Tierschutzmanagements und zielen darauf ab, die Betreuung der Tiere in der Praxis zu verbessern.
Geleitet von den „Fünf Freiheiten“ 2 lag der Fokus des Tierschutzes bisher darauf, zu verhindern, dass Tiere negative Erfahrungen machen. Heute weiß man auch, dass Tiere in der Lage sind, positive Erfahrungen zu machen (z. B. genussvolle Geschmackserlebnisse beim Essen, körperliches Wohlbefinden, soziale Bindungen, angeregtes Spielen), welche ihre Lebensqualität verbessern.
Das Konzept der „Fünf Freiheiten“ ist heutzutage aufgrund einiger zentraler Punkte zur Beurteilung des Tierwohls ungeeignet. Erstens bezieht sich das Konzept der „Fünf-Freiheiten“ nicht speziell auf positive Erfahrungen. Zweitens vernachlässigt es die Bedeutung, die einige negative Erfahrungen für das Überleben der Tiere haben. Drittens bezieht es sich nur auf einen kleinen Teil der mentalen Erfahrungen, die Tiere machen können. Daher wird eine Alternative zum Konzept der „Fünf Freiheiten“ benötigt.
Das Fünf-Domänen-Modell 1,3 ist ein modernes Konzept zur systematischen und umfassenden Bewertung des Tierwohlbefindens. Das Modell basiert auf dem Verständnis, dass mentale Erfahrungen, seien sie negativ oder positiv, ein Spiegelbild der inneren Zustände eines Tieres (z.B. Hunger, der zur Futteraufnahme führt oder Vitalität die zum Spielverhalten anregt) oder der äußeren Umstände (z.B. Bedrohung durch einen Angriff, die zu Angst führt oder die Anwesenheit von Artgenossen, die zu Freude führt) sind. Das Modell konzentriert sich somit auf die Identifizierung der inneren und äußeren Zuständen, die zu mentalen Erfahrungen führen. Die Summe aller mentalen Erfahrungen stellt den Status des Tierwohlbefindens zu einem bestimmten Zeitpunkt dar.
Daher ist unser Ziel, negative Erlebnisse so gelinde und gering wie möglich zu halten und den Tieren auch positive Erlebnisse zu ermöglichen, um insgesamt eine positive Lebensqualität zu erreichen.
Die folgende Tabelle, die basierend auf Mellor 2016 4 und Mellor et al. 2020 5 angepasst wurde, zeigt fünf allgemeine Tierwohlziele, die jeweils von mehreren detaillierten Tierwohlanforderungen beschrieben werden. Die angegebenen Maßnahmen zielen auf die Sicherung der allgemeinen und detaillierten Tierwohlziele ab. Die Tierwohlziele und -anforderungen bestreben einerseits, das Auftreten negativer innerer Zustände und negativer äußerer Umstände, sowie die damit verbundenen negativen Erfahrungen, zu minimieren und andererseits liegt ein besonderes Augenmerk darauf positive Erfahrungen zu fördern.
Allgemeine Tierwohlziele | Detaillierte Tierwohlanforderungen | Maßnahmen |
Gute Ernährung | Durst und Hunger minimieren und Essen zu einem genussvollem Erlebnis machen. | Freier, ständiger Zugang zu frischem Wasser und einer artgemäßen Ernährung zur Erhaltung der vollen Gesundheit und Vitalität 1. |
Gute Haltungsumwelt | Unbehagen und Belastungen durch ungünstige Umgebungsbedingungen minimieren und körperliches Wohlbefinden fördern. | Bereitstellung eines angemessenen Zugangs ins Freie und eines geeigneten Schutzes vor ungünstigen Witterungsbedingungen 2, und/oder eine Unterbringung mit verschiedenen Funktionsbereichen 3, komfortablen Ruhebereichen und guter Luftqualität. |
Gute Gesundheit | Schmerzen 4, Krankheiten und anderes Unbehagen minimieren und die Freude an Vitalität, Kraft, Robustheit und körperlicher Aktivität fördern. | Vorbeugung oder schnelle Diagnose und Behandlung von Krankheiten und Verletzungen sowie Förderung u. a. des richtigen Muskeltonus, der natürlichen Körperhaltung, der kardiorespiratorischen Funktion und der Verdauungsprozesse. |
Angemessene Verhaltensinteraktionen | Bedrohungen und unangenehme Verhaltens- und Bewegungseinschränkungen minimieren und die Teilnahme an (be)lohnenden Aktivitäten fördern. | Bereitstellung von ausreichend Platz, Gesellschaft 5 von Artgenossen, Interaktionen mit dem Menschen, die den individuellen Bedürfnissen entsprechen und abwechslungsreicher Umgebung 6, um eine artspezifische Verhaltensausprägung zu ermöglichen. |
Positive mentale Erfahrungen | Förderung des Erlebens von verschiedenen Formen von Wohlbefinden, Vergnügen, Neugierde, Vertrauen und einem Gefühl der Kontrolle. | Bereitstellung von sicheren und artgemäßen Möglichkeiten zur Interaktion mit der Umwelt, den Artgenossen und dem Menschen, um angenehme Erfahrungen machen zu können. |
Die „Allgemeinen Tierwohlziele“ entsprechen den fünf Domänen des Modells, nämlich: 1) „Ernährung“, 2) „Haltungsumwelt“, 3) „Gesundheit“, 4) „Verhaltensinteraktionen“ und 5) „mentaler Zustand“. Affekte, die aus den ersten drei Funktionsbereichen resultieren, führen dazu, dass Tiere Verhaltensweisen ausführen, die auf die Wiederherstellung der inneren Stabilität abzielen - überlebenskritische Affekte. Die vierte Domäne befasst sich mit den bewussten Handlungen der Tiere bei der Verfolgung bestimmter Ziele in Bezug auf ihre Umwelt, andere Tiere und Menschen 5 - situationsbedingte Affekte. Die Gesamtheit der Affekte aus den ersten vier Domänen wird in der fünften Domäne verarbeitet, welche das subjektive Wohlbefinden des Tieres darstellt.
Um das Wohlbefinden eines Tieres in menschlicher Obhut umfassend beurteilen zu können, ist es wichtig, die Einflüsse des Menschen, d. h. dessen Anwesenheit und dessen Verhalten in Bezug auf das Tier in der Tierwohlbeurteilung zu berücksichtigen. In Situationen wie z.B. dem alltäglichen Umgang, dem Training, der medizinischen Behandlung und der Pflege eines Tieres gibt es Kontakte zwischen Menschen und Tieren, die entweder zu negativen oder positiven mentalen Erfahrungen führen können. Die Valenz (Wertigkeit) dieser Erfahrungen, d.h. ihre positiven oder negativen Auswirkungen, variieren in Abhängigkeit von z.B. früheren Kontakten mit Menschen, dem Vorhandensein von bedrohlichen Umständen, beabsichtigt oder unbeabsichtigt zugefügtem Schaden, dem Grad der Bindung an bestimmte Menschen, der Bereitstellung oder Verweigerung des Zugangs zu Ressourcen sowie der Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten angenehmer oder unangenehmer Natur.
Die nachfolgende Grafik ist eine schematische Darstellung des Fünf-Domänen-Modells in der aktuellen Version von 2020 5, diese veranschaulicht, dass das Tierwohlbefinden dem subjektiven mentalen Zustand eines Tieres (fünfte Domäne) entspricht – resultierend aus der Gesamtheit von Affekten der vier funktionalen Domänen, welche die Lebensqualität eines Tieres bedingen.
Quellenverweis
2. Farm Animal Welfare Council. Second report on priorities for research and development in farm animal welfare. FAWC, Ministry of Agriculture, Fisheries and Food, Tolworth (Now DEFRA, London). 1993.
3. Mellor DJ. Operational details of the five domains model and its key applications to the assessment and management of animal welfare. Animals. 2017;7(8). doi:10.3390/ani7080060
4. Mellor DJ. Moving beyond the “Five freedoms” by Updating the “Five Provisions” and Introducing Aligned “Animal Welfare Aims.” Animals. 2016;6(10). doi:10.3390/ani6100059
5. Mellor DJ, Beausoleil NJ, Littlewood KE, McLean AN, McGreevy PD, Jones B, Wilkins C. The 2020 Five Domains Model: Including Human–Animal Interactions in Assessments of Animal Welfare. Animals. 2020;10(10):1870. doi:10.3390/ani10101870